10.07.2020

"Ins eigene Fleisch schneiden“

Charles Michel zu EU-Haushalt und Wiederaufbau

Jens Geier, Vorsitzender der SPD-Europaabgeordneten und Mitglied des Haushaltsausschusses im Europäischen Parlament, kommentiert die heutigen Vorschläge von Ratspräsident Charles Michel zu mehrjährigem Finanzrahmen und Wiederaufbauprogramm:

"EU-Ratspräsident Charles Michel kommt mit seinem Verhandlungsvorschlag den geizigen Vier entgegen. Das war zu erwarten! Schon der Entwurf der Kommission für den mehrjährigen Finanzrahmen 2021 bis 2027 hat bestehende EU-Programme geschwächt. Der Wiederaufbauplan ist zwar das zentrale Projekt der kommenden Jahre, aber wir schneiden uns in Europa ins eigene Fleisch, wenn wir dafür ausgerechnet erfolgreiche Programme mit hohem europäischem Mehrwert kürzen! Studierendenaustausch (Erasmus Plus), Forschung (Horizont Europa) oder Investitionen in Verkehrswege und Energieinfrastruktur (Connecting Europe Facility) zusammenzustreichen - das nimmt zwar Rücksicht auf die Kassenlage einiger Finanzministerinnen und Finanzminister, ist aber ökonomisch kurzsichtig und daher politisch Unsinn."


"Gut ist, dass Charles Michel das Volumen des Wiederaufbauplans beibehalten will. Dafür muss aber die Mitsprache des Europäischen Parlaments deutlich gestärkt werden. Es gibt Beispiele im EU-Haushaltsrecht, wie Rat und Parlament gemeinsam über die Ausgabe der Mittel bestimmen, zum Beispiel beim EU-Globalisierungsfonds. Beim Wiederaufbauprogramm dürfen wir nicht dahinter zurückfallen. Ein Mehr an europäischer Zusammenarbeit kann nicht ein Weniger an europäischer Demokratie bedeuten."

"In der Eigenmittelfrage geht Michel einen Schritt in die richtige Richtung. Einige Regierungschefs möchten dieses Thema auf die lange Bank schieben. Wenn wir den Zeitplan von Michel verbindlich in EU-Recht verankern, wäre das ein Fortschritt. Die Mitgliedstaaten müssen sich ehrlich machen: Wenn wir die EU-Kommission dazu ermächtigen, an den Finanzmärkten Anleihen auszugeben, muss es einen Plan für die Rückzahlung der Schulden und der anfallenden Zinsen geben. Das funktioniert sinnvoll nur durch EU-Eigenmittel wie die Digitalabgabe oder eine CO2-Grenzabgabe."

"Michels Vorschlag für einen jährlichen Rechtsstaatlichkeitsdialog geht zurück auf einen Vorschlag des deutschen Staatsminister Michael Roth. Das ist ein guter Vorschlag, kann einen funktionsfähigen Sanktionsmechanismus aber nicht ersetzen, denn ein größeres Haushaltsvolumen muss mit einer effektiveren Kontrolle einhergehen. Ein ineffektiver Schutzmechanismus bei rechtsstaatlichen Defiziten wäre ein Feigenblatt für das Gebaren des ungarischen Premier Viktor Orbán."